Einleitung: Der ewige „man“-Reflex
Die deutsche Sprache liebt das Wort „man“. „Man sollte“, „man muss“, „man darf nicht“. Doch wie oft hinterfragen wir, was sich hinter diesem „man“ verbirgt? Wir wachsen auf in einer Gesellschaft voller unausgesprochener Regeln und Erwartungen: Schule, Beruf, Familie, Verantwortung. Und so ziehen wir durch unser Leben, geleitet von einem inneren Autopiloten, der uns sagt, was wir „müssen“. Doch dieser Automatismus kann uns ausbrennen, wenn wir nicht innehalten und bewusst entscheiden.
Das „Ich muss“-Hamsterrad: Autopilot oder Selbstbestimmung?
Es gibt Tage, an denen unser innerer Dialog sich wie ein Diktat anhört: „Ich muss früh aufstehen. Ich muss arbeiten. Ich muss meine Steuererklärung machen.“
Hinzu kommen Vorgaben mit der scheinbaren Lockerheit von „Ich sollte“, die sich verbunden mit unseren Werten auch erstmal richtig anfühlen: „Ich sollte ein guter Ehepartner sein. Ich sollte stets Verständnis für meine Mitmenschen haben. Ich sollte ein guter Vater sein, der immer Zeit hat. Ich sollte mich im Verein engagieren. Ich sollte mich im Beruf mehr engagieren. Ich sollte mehr...“ - Bei so viel „ich sollte“ wandelt sich diese scheinbar unverbindliche Empfehlung mit der Zeit jedoch ebenfalls in in ein „Ich muss“. Dieses „Ich muss“ ist der direkte Nachfahre des „man sollte“, der jedoch keine Fehler duldet. Versagen ist keine Option mehr.
Da viele „Ich muss“-Punkte mit unseren Werten verbunden sind, ist es schwer, dies zu hinterfragen, ohne die eigenen Werte zu gefühlt zu verraten. Doch bevor wir uns damit beschäftigen, wollen wir zunächst erstmal festhalten - und das ist der erste und wichtige Schritt der Erkenntnis: Wenn wir das „Ich muss“ infrage stellen, bedeutet dies nicht, dass wir uns automatisch dagegen entscheiden. Es ist eben nur ein Anhalten auf dem Weg der Automatismen und sich selbst zu erlauben, das „Ich muss“ zu hinterfragen - ganz offen.
Eine Begegnung, die mein „Ich muss“ veränderte
Vor vielen Jahren erlebte ich eine Szene, die mein Verhältnis zu „Ich muss“ grundlegend geprägt hat. Bei einer Veranstaltung wurde ein Bekannter von einer Gruppe regelrecht bombardiert. „Man kann doch jetzt nicht einfach!“, „Du musst doch!“, „Das geht so nicht!“ Die Forderungen und Erwartungen der Umstehenden schienen überwältigend.
Mitten in diesem Chaos hob er plötzlich den Kopf, zog die Mundwinkel leicht herab und sagte: „Ich muss nicht.“
Es war, als hätte jemand einen Stopp-Knopf gedrückt. Sein Ton war weder aggressiv noch abweisend. Er war ruhig, klar und entschlossen. Es war ein Satz, der Raum schuf – Raum für Selbstbestimmung.
Dieser Moment hat mich tief beeindruckt. Bis heute taucht dieses Bild in meinem Kopf auf, wenn ich das Gefühl habe, von einem „Ich muss“ überwältigt zu werden. Es erinnert mich daran, dass ich innehalten und die Frage stellen darf: „Muss ich wirklich? Oder glaube ich das nur?“
„Ich muss nicht“ ist seither ein innerer Kompass für mich. Nicht, um Verantwortung von mir zu weisen, sondern um sie bewusst zu übernehmen – oder auch abzulehnen, wenn es nötig ist.
Wenn „Ich muss“ zum Überlebenskampf wird
Ein Besuch in einem alten Scherenmuseum brachte mir die Schattenseite von „Ich muss“ auf eindringliche Weise näher. Dort, in einer ehemaligen Scherenschleiferei, wurde uns die harte Realität vergangener Generationen vor Augen geführt. Die Schleifer arbeiteten inmitten von Staub und Partikeln, die ihre Lungen zerstörten. Viele von ihnen starben jung, oft vor ihrem 40. Lebensjahr.
Was mich besonders berührte, war die Erkenntnis, dass diese Menschen um die tödlichen Folgen ihrer Arbeit wussten. Sie wussten, dass sie durch den Staub, den sie täglich einatmeten, krank wurden. Doch sie sahen keinen Ausweg. Es war ein „Ich muss“, das keine Alternative kannte: Sie mussten ihre Familien ernähren, ihren Lebensunterhalt sichern.
Heute sind wir selten mit solch existenziellen Zwängen konfrontiert. Doch das Gefühl, keine Wahl zu haben, ist uns allen vertraut. Viele Menschen fühlen sich wie diese Scherenschleifer: gefangen in einem System, das keine Auswege bietet.
Die Lektion aus dieser Geschichte ist klar: Wir dürfen unser „Ich muss“ immer wieder infrage stellen. Denn so oft, wenn wir glauben, keine Wahl zu haben, gibt es doch Alternativen – wenn wir bereit sind, sie zu suchen.
Die wahre Bedeutung von „Ich will“
Häufig hören wir den Ratschlag: „Mach aus einem ‚Ich muss‘ ein ‚Ich will‘.“ Doch das kann auch widersprüchlich wirken. Wer sagt schon ehrlich: „Ich will meine Steuererklärung machen“? Oder: „Ich will Überstunden leisten“?
Der Schlüssel liegt in der richtigen Interpretation von „Ich will“. Es bedeutet nicht, dass wir uns plötzlich alles wünschen sollen, was uns Mühe bereitet. Stattdessen steht es für die bewusste Entscheidung: „Ich entscheide mich, dies zu tun.“
Diese Haltung verändert unser inneres Erleben. Statt uns wie ein Opfer äußerer Umstände zu fühlen, übernehmen wir Verantwortung. Es wird zu einer Wahl – und Wahlfreiheit ist ein mächtiges Gefühl.
Ein Dachdecker mit Weitblick: Verantwortung bewusst wahrnehmen
Ein weiteres Beispiel für die Kraft bewusster Entscheidungen erlebte ich, als ein Dachdecker unser Dach renovierte. Mitten in der Arbeit kam er zu mir, seine Kleidung staubig, sein Gesicht ernst. Er sagte: „Herr Bott, es tut mir sehr leid, aber ich muss heute gehen. Meiner Frau geht es nicht gut, und ich möchte bei ihr sein.“
Seine Worte trafen mich unerwartet. In seiner Stimme lag keine Unsicherheit, sondern eine Entschlossenheit, die beeindruckend war. Er wusste, dass seine Entscheidung nicht jedem gefallen würde, aber er traf sie dennoch – aus einer klaren inneren Überzeugung und in Verbindung mit seinen Werten.
Dieser Moment hat mir gezeigt, wie kraftvoll es sein kann, wenn jemand Verantwortung bewusst übernimmt. Seine Arbeit war wichtig, aber er wusste, dass sie nicht an erster Stelle stand. Er dichtete das Dach mit eine Plane ab, damit alles trocken blieb - und ging. Es war ein Akt der Selbstfürsorge und Fürsorge für andere, der mich tief berührte.
Der Unterschied zwischen Belastung und Überlastung
Viele Menschen, besonders in Führungssituationen, merken oft zu spät, dass sie oder ihre Teams über die Grenze der Belastbarkeit hinausgehen. Die Folge? Burnout, Erschöpfung und ein Verlust an Produktivität.
Hier ist es entscheidend, innezuhalten und zu fragen: Führt das, was wir tun, wirklich zum Ziel, oder steuern wir auf einen Zusammenbruch zu? „Ich muss“ kann ein gefährlicher Begleiter sein, wenn es nicht hinterfragt wird. Denn wer zu lange im „Ich muss“-Modus bleibt, verliert irgendwann den Blick für Alternativen - für die Mitarbeiter/innen – und auch sich selbst.
Eine Einladung zur Selbstreflexion
Wenn Sie das nächste Mal „Ich muss“ denken oder sagen, stellen Sie sich die Frage: „Stimmt das wirklich? Muss ich das, oder denke ich nur, dass ich es muss?“ Vielleicht stellen Sie fest, dass Sie mehr Freiheit haben, als Sie glauben.
Und wenn nicht für sich selbst, dann achten Sie auf die Menschen in Ihrer Umgebung. Vielleicht gibt es jemanden, der im Hamsterrad des „Ich muss“ gefangen ist und Ihre Unterstützung braucht. Oft reicht ein offenes Gespräch, um neue Perspektiven zu eröffnen.
Fazit: Der Mut zur Entscheidung
Unser Leben ist geprägt von Entscheidungen. Manche treffen wir bewusst, andere folgen dem Automatismus der Erwartungen. Doch jeder Moment, in dem wir sagen: „Ich entscheide mich dafür“, bringt uns ein Stück näher zu einem selbstbestimmten Leben. Lassen Sie sich von der Frage leiten: „Muss ich wirklich?“ Und wenn die Antwort „Nein“ lautet, erlauben Sie sich, eine Alternative zu suchen.
Vielen Dank, dass ich diese Gedanken mit Ihnen teilen durfte. Wenn Sie ähnliche Situationen des „Ich muss“ erlebt haben oder andere Anregungen haben, dann schreiben Sie dies doch gerne hier in die Kommentare – aber Sie müssen nicht :-)
Ihr Trainer und Coach
Christian Bott
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